ZU WOLFGANG AMADEUS MOZARTS REQUIEM

Im letzten Brief des damals 31-jährigen Wolfgang Amadé
Mozart an seinen Vater, kurz vor dessen Tod, schreibt Mozart, er wünsche sich über den kranken Vater bald eine „tröstende Nachricht", obwohl - und nun wörtlich - „ich es mir zur Gewohnheit gemacht habe, mir immer in allen Dingen das Schlimmste vorzustellen. Da der Tod (genau zu nehmen) der wahre Endzweck unsers Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, dass sein Bild nicht allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel Beruhigendes und Tröstendes! Und ich danke meinem Gott, dass er mir das Glück gegönnt hat, mir die Gelegenheit ... zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennenzulernen. Ich lege mich nie zu Bette, ohne zu bedenken, dass ich vielleicht - so jung als ich bin - den andern Tag nicht mehr sein werde."

Vier Jahre später erhält Mozart den geheimnisvoll anonymen, doch gut bezahlten Auftrag, eine Totengedenkmesse zu komponieren. Er nimmt diesen Auftrag an, mitten in der Arbeit an zwei Opern - „Titus" und „Zauberflöte". Aber ehe er ihn vollenden kann, stirbt er am 6. Dezember 1791, 35 Jahre alt. Schüler, allen voran Franz Xaver Süßmayr, ergänzen das Werk später nach seinen Angaben.

Seit alters wird die Liturgie des römisch-katholischen Totengedenkgottesdienstes nach ihren ersten Worten, der Bitte um ewige Ruhe, „Requiem" genannt. Zu ihr gehören Stücke, die in jeder Messe vorkommen: „Kyrie eleison - Herr, erbarme dich", „Sanctus" - also: dreimal „Heilig" mit „Benedictus - gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn", gerahmt vom „Hosianna" sowie dreimaliges „Lamm Gottes". Der große Lobgesang und das Glaubensbekenntnis fehlen in der Totenmesse.
Dafür kommen hier hinzu:
- ein „Introitus", nämlich die schon genannte Bitte um „ewige Ruhe", die sich als roter Faden durch die Texte zieht,
- die sogenannte „Sequenz", eine mittelalterliche Reim-dichtung vielleicht aus dem Umkreis der Franziskaner. Sie rüttelt die Lebenden im Angesicht eines Verstorbe-nen mit erschreckenden Bildern zum Gedenken an den Tod und die Ewigkeit auf und leitet an zur Bitte um Gnade und um ewige Freiheit und Ruhe,
- das „Offertorium", d.h. ein Gesang zur Darbringung von Opfergaben, die - zu Brot und Wein im Sakrament dargebracht - den letzten Richter gnädig stimmen sollen, und
- das „Lux aeterna - ewiges Licht leuchte ihnen", die abschließende Fürbitte für die Verstorbenen.

In welchem Verhältnis stand Mozart zu diesen Texten? Wir können es nur vermuten. In seiner „Zauberflöte" hatte er sich, für seine Zeitgenossen deutlich erkennbar, auf die Seite der Aufklärer seiner Zeit gestellt. Mit der „Königin der Nacht" und ihrem Hofstaat bildete er eine aufklärungsfeindliche, auf schwer verdauliche Lehren beharrende Kirche ab. Aber die düsteren Bilder der alten liturgischen Dichtung wie z. B.: Weltbrand, Rachen des Löwen und Höllen-Abgrund, ewiges Feuer, letzte Posau-ne, das Öffnen des großen Buches menschlicher (Un)Taten und das Erzittern alles Geschaffenen vor dem letzten Richter - solche Bilder mittelalterlicher Phantasie standen für Mozart offenkundig jenseits seiner kritischen Sicht der Kirche. Er vertont sie mit dem ganzen Einsatz und dem ständigen Wechsel der reichen musikalischen Mittel eines erfahrenen Kirchen- und Opernkomponisten. Vor allem fällt der harmonische Reichtum der Partitur auf. Modulationen und Tonartenrückungen vor allem in terzverwandten Beziehungen erzeugen immer neue Spannung und unterstreichen die Worte. Gleichzeitig schafft Mozart durch Tonartenbeziehungen, durch Motive und musikalische Formen größere Zusammenhänge. Dabei erzielt er die stärksten Wirkungen oftmals dann, wenn er seine Mittel besonders sparsam einsetzt.

Dies gilt schon für die Orchester-Besetzung, die er wählte. Sie verzichtet auf viele Möglichkeiten, in deren Einsatz Mozart Meister war: z. B. auf Flöten, Oboen und Klarinetten. Einzig zwei Holzbläserpaare wirken mit: Bassetthörner, eine Art Altklarinette mit tieferem, dunklerem Klangspektrum, und Fagotte. Dafür sind Trompeten, Posaunen und Pauken beteiligt, die zum Streicherklang einen deutlichen Gegenakzent setzen, sei es, dass Mozart sie gleichzeitig klanglich einander gegenüberstellt, sei es, dass er ihren Kontrast im unmittelbaren Nacheinander wirken läßt.

Gesangssolisten sind, von kleineren Einsätzen im „Introitus" und im „Offertorium" abgesehen, auf „Tuba mirum" (3), „Recordare" (5) und „Benedictus" beschränkt.
Das ganze Werk ist vom Chor her entworfen und gedacht. Das zeigen auch die unvollendet gebliebenen Skizzen, die Mozart hinterlassen hat. Doch immer wird der Chor begleitet oder umspielt von einem Orchester, das dem Gesang der Stimmen zusätzliche Ausdrucks-werte hinzufügt.

Einige B e i s p i e l e können vielleicht dabei helfen, der Fülle der Ausdrucksmittel Mozarts in diesem seinem letzten Werk auf die Spur zu kommen.
1. Gleich das erste Stück - REQUIEM MIT KYRIE - breitet die ganze Palette der Mozartschen Darstellungskunst vor uns aus. Mit einer unvergleichlich traurigen Zwiesprache zwischen den Holzbläsern, begleitet von gleichsam hinkenden Streichereinwürfen, setzt das Werk in der Grundtonart d-moll ein, die auch die Tonart des dramatischen Don- Giovanni -Finales mit dem Auftritt des steinernen Gastes und der Höllenfahrt des Titelhelden ist. Die Melodie dieses Anfangs nimmt einen protestantischen Choral auf, nämlich „Wenn mein Stündlein vorhan-den ist" (EG 522) auf die Melodie: „Herr Jesu Christ, du höchstes Gut" ( EG 219). Hier nimmt also der Mensch, der an der Gedenkliturgie für einen Verstorbenen teilnimmt, selbst Abschied von einem gedankenlos gelebten Leben. So fasst Mozart also vom ersten Ton seiner Komposition an die ihm gestellte Aufgabe auf. Zu diesem Choralzitat hat er sich von einer Trauermusik Georg Friedrich Händels anregen lassen, dessen Werk -wie auch das Johann Sebastian Bachs - er in den Jahren zuvor intensiv studiert hatte.

Drei harte, hochdramatische Bläserakkorde (Takt 7) führen hin zum Choreinsatz, der die Grundbitte dieser Liturgie, die Bitte um ewige Ruhe für alle Verstorbenen aus dem Munde der - noch - Lebenden anstimmt, begleitet jetzt von Seufzermotiven der Streicher. Der mit versetzter Stimmführung wie im Kanon komponierte Be-ginn mündet auf die Worte der Gebetsbitte in einen homophon, das heißt: im gleichen Rhythmus aller Stimmen akkordisch komponierten Gesang ein (Takte 13b - 14).
Jetzt verstummen die Seufzer, und feierliche Bläser-akkorde unterstreichen die dringlich vorgetragene Bitte: „und ewiges Licht leuchte ihnen" (Takte 15 - 19). Als werde die Bitte bereits in diesem Augenblick erfüllt, moduliert Mozart in die terzverwandte Tonart B-Dur. In ihr stimmt nun die Sopransolistin, von Streichern wunderbar weich umspielt, einen der bekanntesten ‚Töne' aus dem mittelalterlichen Mönchsgesang an, der bis heute vor allem auf die Worte des Lobgesangs der Maria: „meine Seele erhebt den Herren" erklingt. Der Chor nimmt dies auf, wieder als dringende Bitte: „erhöre mein Gebet" in selbständiger Stimmführung, diesmal von energisch punktierten Orchesterstimmen unterstrichen. Dann verbindet Mozart das Eingangsmotiv mit der umspielenden Streicherfigur der Psalmodie, die jetzt auch gesungen wird, bis alles in eine Fuge mündet, die sich mit zwei stets gleichzeitigen Themen (Takte 49ff) immer dichter und gewaltiger steigert bis zum homophonen Schluß: „Herr, erbarme dich". Bitte zu Gott und Bittruf zu Jesus Christus fallen hier musikalisch stets zusammen.

2. Die SEQUENZ spannt den Bogen vom erregten „Dies irae - Tag des Zorns" bis zu den Tränen des „Lacrymosa". Das erste Stück geht mit ständigen Dur-Moll-Modulationen durch fast alle Tonarten. Es setzt auf den stetigen Wechsel der Darstellung des großen künftigen Erzitterns und der Wehklage über den unentrinnbaren „Tag des Zorns" (Takte 40f).
„Tuba mirum" mit dem einzigen Instrumentalsolo der ganzen Komposition spricht für sich selbst. Nach und nach treten die andern Solosänger zum Solobaß hinzu und singen, im Akkord-Wechsel mit den Bläsern die bange Frage :"was hätte ich denn zu meiner Verteidigung vorbringen, cum sit justus sit securus? - wenn also selbst der Gerechteste nicht des letzten Freispruchs sicher sein kann?" Bei der Wiederholung dieser zweifelnd ängstlich vorgetragenen Frage vertauscht Mozart stei-gernd die Reihenfolge der Instrumenten- und Sängerakkorde, um alles in einer tröstlichen Modulation zur Lösung zu führen, so als dürfe wenigstens schon seine Musik etwas von einer letzten, dennoch berechtigten Zuversicht vermitteln.

3. „Rex tremendae majestatis" stellt durch punktierte Rhythmen, wie in der französischen Ouverture üblich, die erschreckende Größe und Macht des göttlichen Königs dar. Der Chor ruft gleichzeitig und nachahmend im Wechsel Gottes Majestät an. Ein ergreifendes Beispiel dafür, wie Mozart höchste Wirkungen durch Reduzierung seiner Mittel erzielt, gibt der Schluß dieses Stückes. Im Augenblick, in welchem die Anrufung Gottes in eine Bitte übergeht, spielen die Streicher ein plötzliches Piano. singen die hohen und tiefen Chorstimmen nacheinander in bewegenden Sexten „salva me" und die Streicherbewegung nimmt über einem nun ruhigen Baß tröstliche Züge an (Takte 17ff).

4. Im „Recordare" (Nr. 5) zeigt Mozart die ganze, sozusagen psychologische Meisterschaft seiner Kunst. Die Bitte um Das Gedenken des gütigen Jesus beginnt mit einem einander umspielenden, erst langsam in Bewegung kommenden Duett der beiden tiefen Klarinetten. Gleichzeitig steigt es mit einer sich zum Bittenden herunterneigenden Bewegung aus der Tiefe der Celli hinauf zu Geigen. So ist „Gedenken"! Darum darf der Mensch angesichts des Sterbens Gott bitten.
Das Quartett der Sänger erinnert an bewegende Opernscenen Mozarts, ganz besonders die wunderbare Stimmführung auf die Worte „ne me perdas illa die - laß mich nicht an jenem Tag zugrunde gehen" (Takte 26ff).

5. Auch im „Confutatis maledictis" begegnen wir aufs neue einer wunderbaren Reduzierung der musikalischen Mittel. Nach den punktierten Reibungsklängen über äußerst erregten Bässen, die die Preisgabe der Verdammten an scharfe Flammen abbilden, plötzliches Piano, eingeleitet wiederum von drei Bläserakkorden hohe, parallel geführte Chorstimmen über einstimmigen Violinen, wiederum beim Übergang zur flehentlichen Bitte: „voca me cum benedictis - rufe mich in den Kreis der Gesegneten". Ein kühner Gang durch verschiedenste Tonarten auf die Worte: „ich bitte dich flehentlich und in Asche" beschließt den ungemein kontrastreichen Satz und leitet über

6. zum berühmten „Lacrimosa". Hier tritt zu dem schwingenden Weinen des Chores (Takt 3) auf die Worte „tränenreicher Tag" ein Seufzermotiv der Streicher.
Doch kaum hat man sich eingehört in die fast betörenden Klänge, wird man mitgenommen in eine ungeheure Steigerung auf die Worte „qua resurget - wenn aus der Asche des Grabes die Gebeine der schuldbeladenen Menschen auferstehen zum Gericht": tastendes, wankendes Auferstehen zuerst, Achtelnoten von Pausen unterbrochen, dann in langen Tönen bis zur Dezime im Sopran. Doch die Steigerung geht weiter, diesmal vom Sopran in die Bässe verlegt, welche schrittweise in Oktaven nach oben steigen. Dann eine drängende Bitte im stetigen Lagen- und Harmoniewechsel bis zur modulierenden Auflösung über B-Dur nach F-Dur, wiederum terzverwandt mit der Grundtonart d-moll.

7. Modulationen kennzeichnen auch das „Domine Jesu Christi", am eindrucksvollsten wieder da, wo die Anrede aufs neue in die Bitte übergeht: „befreie mich" (Takte 14f) von c-moll in das hellere As-Dur. Wieder entsteht durch diese Rückung, also durch ein musikalisches Mittel, der Eindruck, die Bitte sei bereits erhört. Wenn gesungen wird, dass die Seelen der verstorbenen Gläubigen „nicht in finstere Tiefen stürzen" möchten, so macht Mozart - darin noch ganz barock - musikalisch das Gegenteil deutlich, nämlich wie es aussähe, wenn sie doch stürzten (Takt 29f). Es schließt sich, nach einem kurzen solistischen Zwischenspiel, die Fuge „Quam olim Abrahae promisisti - wie Du es einst Abraham und seinen Nachkommen ver-sprochen hast" an (Schluß von Nr. 8). Ihr Thema, wie so viele Themen des Mozartschen Requiem nicht volltaktig beginnend (Takte 44f) - in beiden Thementeilen nicht! -, unterstreicht umso nachdrücklicher das immer neue Pochen auf die Abrahamsverheißung. Das Orchester fügt ein ganz selbständiges Element hinzu, nämlich ein rhythmisch ebenso prägnantes Motiv, welches ständig hin- und herwandert zwischen tiefen und hohen Instrumenten - wie Frage und Antwort oder wie Bitte und Erhörung.

8. Diese Fuge kehrt kurz darauf nochmals wieder. Sie rahmt gewissermaßen das „Hostias" (Nr.9), vielleicht das insgesamt lichteste Stück des Werkes, dazu im Dreier-takt, den die Streicher durch ständige Synkopen noch hervorheben. Es steht in Es-Dur, also weit entfernt von der Grundtonart des Ganzen - d-moll, auch hier wieder mit den ungewöhnlichsten Modulationen ausgestattet (Takte 39ff).

10. „Sanctus" mit „Benedictus", gerahmt durch eine kurze „Osanna"-Fuge, gehören zu jeder Messe. Mozart hat sie oft komponiert. Hier verbindet er den Anfang des „Sanctus" mit dem Anfang des „Dies irae" durch gleiche Harmoniefolge, wenn auch vom d-moll ins D-Dur umge-setzt (Takte 1f). Es ist der gleiche Gott, von dem in beiden Fällen gesungen wird. Das Thema der „Osanna"-Fuge wiederum ist eng verwandt mit dem der „Quam-olim"-Fuge. Wie so oft in den Messen der Klassik und Romantik gehört das „Benedictus - Gelobt sei, der da kommt im Namen Gottes", solistisch gesungen, zu den sanglichsten und lieblichsten Stücken des Ganzen. Auch hier aber erinnern die akkordisch eingesetzten Posaunen und Trompeten mit Pauken daran, welcher Herr hier einziehen will und begrüßt wird.

11. Auch die Anrufung des „Lamm Gottes - Agnus Dei" moduliert wieder durch viele Tonarten. Auch so, bei einem dreimalig wiederholten Text, hält Mozart Span-nung aufrecht. Dazu unterstreicht er die Anrufung jeweils durch eine weich umspielende Streicherbewe-gung, die bei der anschließenden Bitte „dona eis requiem - gib ihnen Frieden" schweigt. Den Schluß des Ganzen hat Süßmayr, vielleicht doch im Sinne Mozarts, aus den originalen Stücken des ersten Teils genommen. So entsteht nochmals eine Rahmung, und Mozarts Stimme hat das letzte Wort.

Daß uns gerade dieses Werk, an dem Mozart bis in seine letzten Atemzüge arbeitete, nicht nur erschüttern, sondern auch trösten kann, hängt sicher auch mit seiner Einstellung zum Tode zusammen, wie er sie Jahre zuvor im Brief an seinen Vater, aus dem eingangs zitiert wurde, offengelegt hat. Es hängt aber wohl zuallererst damit zusammen, dass Mozart mit seinen Tönen und Klängen oft eine Reinheit erreicht, die uns die Bitten und Hoffnungen auf den Gott Abrahams und Vater Jesu Christi als schon erfülltes, zumindest als glaubwürdig klingendes Versprechen erscheinen lassen.

 

 

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