Johannes Schultz, ein Hoforganist in Dannenberg

Die folgenden Ausführungen gelten einem Zeitraum deutscher, im weiteren: europäischer Geschichte, über die im allgemeinen Bewusstsein nur wenigbekannt ist. Sie gelten im besonderen einem Mann, von dem kaum mehr als sein Name ‚Johannes Schulz' und allenfalls seine Profession hier und da noch im Gedächtnis sind. Doch wenigstens in Dannenberg halten eine Straße sowie - ausführlicher und zutreffender - eine Gedenktafel den Namen und die Tätigkeit dessen fest, der in dieser Stadt gewirkt und sich in ihr einen Namen gemacht hat. Vor 406 Jahren trat er sein Amt als ‚Hoforganist' an und hat es 48 Jahre hindurch am Dannenberger Hof und an der Dannenberger St.-Johannis-Kirche ausgeübt.

Kirchbau und Orgel sahen damals freilich noch sehr anders aus als heute. Die mächtigen Fundamente des Westwerks scheinen zwar schon gelegt gewesen zu sein, wie es der Stich von Matthäus Merian vermuten läßt, ein Jahr nach dem Tod des Organisten veröffentlicht. Doch von dem heute so eindrucksvollen Turmaufbau ist auf ihm noch keine Spur zu sehen. Statt dessen nur ein kleiner Reiter über dem vorderen Kirchdach, deutlich überragt von den nahen, erst in den Jahren zuvor entstandenen Schlossgebäuden mit dem damals noch spitz behelmten Waldemarturm. Auch von der seinerzeitigen Orgel, offenkundig bereits zu Anfang des 16. Jahrhunderts vorhanden und später mehrfach restauriert, ist nichts mehr übrig. Dennoch ist der Kirchraum der gleiche, in dem Johannes Schultz wirkte und welcher daher auch für eine zeitgenössische Gedenkveranstaltung als angemessener Ort erscheint.

Über Johannes Schultz liegt eine gründliche Monographie von Robert Siebeck vor (Leipzig 1913). Vor fast 100 Jahren veröffentlicht, stellt diese Dissertation die bisher einzige musikwissenschaftliche Arbeit zu diesem Komponisten dar. Doch ist die Erforschung der Musik jener Zeit seither fortgeschritten. Dies ermöglicht über Siebecks Beitrag hinaus hier und da andere Akzente in der Bewertung des Johannes Schultz zusetzen, als sie 1912 möglich waren. Dies wird im Folgenden jeweils markiert. Es gliedert sich in drei Abschnitte
- zur Zeit, in der Johannes Schultz lebte und wirkte,
- zu seinem Leben und Schaffen und schließlich
- zu seiner Musik.
-
Blockflöten: ‚Intrada 43' aus dem ‚Musicalischen Lüstgarte' von 1622 .
Man hört es der Musik dieses vorbarocken Komponisten nicht unbedingt an, dass sie in einer Zeit tiefgreifender Umbrüche und Übergänge entstand. Doch könnte gerade dies auch ihr Beitrag zu jener Zeit gewesen sein. Die Umbrüche, denen sie sich womöglich entgegenstellen, von denen sie sich zum mindesten freihalten möchte, haben einen ersten Höhepunkt in der großen europäischen Reformations- und Reformbewegung im ersten Teil des 16. Jahrhunderts. Durchschlagend kommen sie 100 Jahre später noch einmal im ‚30-jährigen' europäischen Territorial- und Religionskrieg zum Ausdruck. Beides, Reformation und großer Krieg, prägte die Lebenszeit unseres Komponisten. Darüber hinaus musste er mehrfach lokale Ereignisse wie Feuersbrünste und Pestwellen miterleben, die Hunderte Menschenleben forderten. Im Hintergrund aber ereigneten sich epochale Entwicklungen, von denen die Kunde sicher auch in die kleine Residenzstadt Dannenberg vordrang. Sie ergeben in der Summe das Bild tiefgreifender Neuerungen.
An einige der wichtigsten sei in Kürze erinnert:

- im Geburtsjahr des Johannes Schultz, 1582, ersetzt Papst Gregor XIII. den bis dahin gültigen Julianischen Kalender durch den seither nach ihm benannten, der im Wesentlichen bis heute gilt. Eine epochale Tat. Sie macht die beiden Gesichter jener Zeit sichtbar: den starken Veränderungsbedarf und den entschlossenen Willen, eine neue Ordnung herbeizuführen;

- gleiches gilt für die noch weit tiefer greifende Umwälzung jener Zeit, nämlich für die nur unter größten Widerständen und Kämpfen durchgesetzte Weltdeutung des Kopernikus. Dafür stehen Zeitgenossen des Johannes Schultz wie Giordano Bruno, Galileo Galilei und Johannes Kepler, der auf der Grundlage des Kopernikus sowie der Beobachtungen des Tycho Brahe den elliptischen Verlauf der Planetenbahnen erkannte und berechnete. Doch die Planeten umrundeten nun eben nicht mehr - wie es bis heute dem Auge erscheint - die Erde, sondern die Sonne. Die Erde konnte dementsprechend nicht mehr als ruhender Mittelpunkt der geschaffenen Welt gelten. Sie war vielmehr selbst hineingerissen in die Umläufe der Planeten, für die Kopernikus den Begriff ‚revolutiones' verwendet hatte. Naturerforschung stellte sich damit ebenso gegen den Augenschein wie gegen die vermeintlich biblische Lehre. So etwas konnte damals noch nur unter Gefahr für Leib und Seele vertreten werden;

- zur gleichen Zeit leitete René Descartes einen anderen epochalen Umbruch ein. Er begründete in seinen philosophischen Schriften menschliche Daseinsgewißheit nicht mehr im Glauben an die vorgegebene Schöpfung Gottes (die ‚res extensa'), sondern im Denkakt (‚res cogitans') selbst: ‚ich denke, also bin ich existent inmitten aller wahrnehmbaren Dinge'. Im Vergleich zur vorgenannten Umwälzung könnte man diese philosophische sozusagen als Gegenbewegung verstehen: das aus dem kosmischen Mittelpunkt vertriebene denkende Geschöpf setzt das eigene Tun in den Mittelpunkt;

- Maler wie Peter Paul Rubens und Rembrandt sowie Dichter wie
William Shakespeare und Andreas Gryphius - allesamt Zeitgenossen des Johannes Schultz - erschließen ebenfalls völlig neue Welten, Welten des Sehens, Darstellens und Zeiterlebens;

- im Jahr nach Schultz's Dienstantritt in Dannenberg wird Paul Gerhard geboren, der kraft seines Glaubens zu einer Sprache findet, die im Vergleich zur nicht selten formelhaft verschnörkelten und überladenen Barockrhetorik bis heute echt wirkt und tief anzurühren vermag;

- schließlich umrahmen zwei epochale Bauwerke das Leben des Johannes Schultz: wenige Jahre nach seiner Geburt wird der von Michelangelo begonnene Kuppelbau des Petersdoms in Rom fertiggestellt. Wenige Jahre nach dem Tod des Komponisten ergänzt Lorenzo Bernini den monumentalen Kirchbau durch die 284 Säulen der Kolonnaden des Petersplatzes. Beides bezeugt den ausgeprägten Repräsentations-, Macht- und Gestaltungswillen, welcher von nun an die folgende Epoche kennzeichnete.

Überall also, nahezu europaweit, dasselbe Bild: Aufbruch, Umbruch und Übergang, gepaart mit dem Bemühen um eine neue Ordnung. In diesem Umfeld geht auch Johannes Schultz seinen Weg und komponiert nach anfänglichen, eher saekularen, höfischen Instrumentalstücken bald auch ‚geistliche', das heißt gottesdienstlich verankerte und nutzbare Vokalmusik.
Motette ‚Laudate Dominum' zu vier Stimmen auf Worte des 150. Psalms aus dem
‚Thesaurus musicus', dem ‚musikalischen Schatzkästlein' von 1621.

II. Doch zunächst ein Blick auf das Leben des Komponisten. Es ist von mancherlei Nöten und Widrigkeiten geprägt, von ersten Aufschwüngen und Erfolgen ebenso wie von späten Enttäuschungen. Getauft am 26. Juni 1582 in der Lüneburger Johanniskirche - sein Vorname lässt vermuten, dass er zwei Tage zuvor am Johannestag geboren wurde -, wächst er wohl auch dort auf. Seine Eltern, eher aus kaufmännischen als aus handwerklichen Berufen herkommend, ermöglichen ihm eine Schulbildung, welche ihm einen sicheren Umgang mit der deutschen Sprache bis hin zum Verfassen von Gedichten und wohlgesetzten Schriftsätzen sowie gute Kenntnisse der lateinischen Sprache vermittelte. Doch wissen wir nichts über seinen musikalischen Werdegang. Offenkundig muß seine diesbezügliche Begabung und seine Geschicklichkeit im Erlernen eines Tasteninstruments früh erkannt und gefördert worden sein. Anders wäre seine offenbar gründliche, - wie damals stets - handwerklich orientierte Ausbildung zum Organistenamt nicht zu erklären. Sie war es, die ihn immerhin zum Dienst an einem Fürstenhof befähigte. War dieser Hof auch einer der kleinsten, so war er doch nicht weniger auf Reputation bedacht als ein großer. Dafür bedeutete ein ‚Hoforganist' eine Schlüsselfigur.

Ebenso sicher wie seine handwerklich ‚spielerische' Ausbildung an den Tasten erscheint es, daß Johannes Schultz Chorgesang hat studieren können - vermutlich durch eigenes Mitsingen, ganz gewiß aber durch gründlichen Unterricht im Tonsatz, den er vollkommen beherrschte. Lucas Lossius, der zuvor am Johanneum zu Lüneburg wirkende Luther- und Melanchthonschüler, bedeutender Pädagoge und Kantor, gehörte nachweislich zu seinen Vorbildern. Über Lüneburg hinaus könnte Schultz in der nahen Stadt Hamburg mit ihren zahlreichen Kirchen Anregungen für sein Orgelspiel und sein kompositorisches Wirken gesammelt haben.

Von einer Anstellung vor seiner Dannenberger Tätigkeit wissen wir nichts. Umso bemerkenswerter, dass der musikschätzende Dannenberger Herzog Julius Ernst den 23jährigen Musiker als ‚Hoforganisten' einstellte. Das ist nicht denkbar, ohne dass dieser sich bereits einen Namen gemacht hatte. Denn mit seiner Berufung gedachte der Fürst seinem Hof sicherlichGlanz zu geben. Musik diente ja jedem Hof seiner Zeit - und vieler Zeiten - nicht allein zu erhöhter Festlichkeit, sondern vor allem zu Repräsentation und Ansehen vor anderen7. Mit ihr legte ein Fürst vor seinem Hofstaat und seinen Untertanen, vor allem aber: vor anderen Höfen Ehre ein. Das dürfte auch in Dannenberg nicht anders gewesen sein.

So seien hier einige Hinweise auf die Dannenberger Welfenresidenz eingefügt. Diese bestand seit 1569 und wurde eingerichtet, als Herzog Heinrich von Braunschweig - Lüneburg, ein Sohn Ernst des Bekenners, infolge einer verabredungswidrigen Eheschließung sich mit einer Art standesgemäßer Versorgungsherrschaft (‚Apanage') in Gestalt einer Sekundogenitur in den Ämtern Dannenberg und Scharnebeck, später dazu auch Hitzacker, Lüchow und Wustrow abfinden musste. Sein Herrschaftsgebiet umfasste ungefähr das heutige Wendland mit Ausnahme von Gartow und Schnackenburg und zählte etwa 12.000 Seelen. Er führte den Titel ‚Herzog'. Dennoch entstand hier kein eigenständiges Fürstentum. Denn Steuerhoheit und Verantwortung für Außenpolitik blieben bei den welfischen Landesherren in Celle, später Wolfenbüttel. 1598 trat sein 27jähriger Sohn Julius Ernst die Herrschaft in Dannenberg an und führte sie bis zu seinem Tode 1636. Danach ging sie an dessen jüngsten Bruder Herzog August in Wolfenbüttel über, einen vielseitig gebildeten und weitgereisten Fürsten, der sich insbesondere durch seine umfangreiche, gelehrte Büchersammlung einen Namen gemacht hat, welche den Grundstock der später berühmt gewordenen Wolfenbütteler ‚Herzog-August-Bibliothek' bildete.

Julius Ernst war es, der Johannes Schultz in seine Residenzstadt holte. Welche Aufgaben dieser aber über den Organistendienst in der Dannenberger Kirche hinaus am Hofe zu versehen hatte, darüber geben die bisher erschlossenen Hofakten keine Auskunft. Bei dem für die Residenz eines Herzogs denkbar kleinen Personalstand des Hofes von 30 Bediensteten9 ist es nicht einmal wahrscheinlich, dass am Hofe außer dem Organisten noch weitere Musiker angestellt waren. Doch die knappe Ausstattung des Hofes bedeutete, wie schon angesprochen, keineswegs, dass auch das Repräsentationsbedürfnis entsprechend klein gewesen wäre. Manches spricht eher für das Gegenteil. So werden bei Feiern und festlichen Anlässen am Hof, wenn schon nicht eine eigene Hofkapelle, so doch Musiker, vermutlich ad hoc aus der Region zusammengebracht oder von anderen Höfen ‚geliehen', gespielt und gesungen haben. Dabei dürfte dem Organisten eine koordierende, wenn nicht gar führende Rolle zugekommen sein.
Blockflöten: ‚Galliard 30' von 1617.

Stücke wie z. B. die damals beliebten ‚Galliarden', im Kontrast zu gemesseneren, geradtaktigen Tänzen im beschwingten Dreiertakt komponiert, wurden gerade für den Gebrauch am Hofe und bei höfischen Festen geschrieben und haben dort ihre Wirkung entfaltet. Ihnen galt von Anfang seines Schaffens an die besondere Liebe des Johannes Schultz. Erst später traten gottesdienstliche Aufgaben stärker in seinen Blick.

Eines allerdings war Johannes Schultz dennoch nie: ‚Kantor'. Dies wird indirekt auch in der ‚Chronik der Stadtschule zu Dannenberg' bestätigt. Das Kantorenamt war seit jeher und noch lange Zeit danach in der Regel streng vom Organistenamt unterschieden. Den Unterschied machte insbesondere der Schuldienst. ‚Kantor' war auch in Dannenberg ein herausgehobenes Schulamt, das nächstwichtige nach dem Rektor. Es setzte in der Regel den Stand eines ‚Geistlichen', immer aber ein akademisches Studium voraus. So wurde es gerade auch von Luther und seinen Nachfolgern gefordert. Die Mitarbeit von Johannes Schultz an der Dannenberger Schule war dagegen auf verwaltende Aufgaben beschränkt. Doch wird er, da es an dieser Bürgerschule, die aus einer vorreformatorischen Lateinschule hervorgegangen war, sicher jugendliche Sänger gab, mit diesen und dem Kantor vermutlich bei der Gestaltung seiner gottesdienstlichen Aufgaben kooperiert haben.

Der Dienst an der Orgel bei den Sonntags- und Wochengottesdiensten erforderte Vorspiele und Nachspiele sowie Orgelspiel während der Austeilung des Abendmahls. Regelmäßige Begleitung des Gemeindegesangs war damals hingegen noch weithin unbekannt. Wohl aber hatte die Orgel den vom Kantor und gegebenenfalls von der Kantorei angestimmten und begleiteten Gemeindegesang einzuleiten oder auch eine Strophe anstelle des Gemeindegesangs zu spielen - so entstand die Gattung des ‚Orgelchorals'. Gleiches galt für Psalmkompositionen oder andere Chorsätze, die der Organist einzuleiten und oftmals auch zu begleiten hatte.

Siebeck meinte in seiner genannten Arbeit urteilen zu dürfen, Johannes Schultz habe die Orgel nicht sehr geliebt, da er keinerlei entsprechende Kompositionen hinterlassen habe und die Dannenberger Orgel am Ende seines Lebens als sehr renovierungsbedürftig befunden worden sei. In der Tat hatte der Organist für laufende Renovierungsarbeiten aufzukommen. Doch wird dies Urteil zum einen durch neuere Arbeiten zur Entstehung der Orgelliteratur14, zum andern durch Schultz' zunehmend prekäre finanzielle Lage in seinen letzten Lebensjahren infrage gestellt.

Daß Orgelnoten von seiner Hand fehlen, lässt kein Urteil, wie das von Siebeck formulierte zu. Vielmehr wäre es umgekehrt äußerst ungewöhnlich gewesen, wenn Schultz eigene Orgelstücke in Druck gegeben hätte. Denn daß ein einzelnes Instrument - im Fall der Orgel allerdings ein vielstimmiges - und damit ein einzelner Musikant allein konzertierte, war ja musikhistorisch gesehen überhaupt erst im Entstehen. Nicht zufällig entwickelte sich dies in großen Städten durch wenige außerordentliche Organisten, die mit ihrem Spiel in völlig neue Klang- und Spielweisen vordrangen und dies dann auch veröffentlichten. So vor allen Girolamo Frescobaldi in Rom, Jan Pieterszon Sweelinck in Amsterdam sowie dessen Schüler Heinrich Scheidemann in Hamburg, später auch Johann Adam Reinken und Dieterich Buxtehude in Hamburg und Lübeck, zu denen selbst ein Johann Sebastian Bach pilgerte. All das war die Geburt von Solokonzerten überhaupt, zwar noch im Kirchraum angesiedelt, aber von einem nicht mehr allein gottesdienstlich gebundenen, bürgerlich-städtischen Publikum begeistert aufgenommen und getragen.
Ob Johannes Schultz diese Entwicklung kannte, wissen wir nicht. Immerhin sind aber Reisen von ihm nach Hamburg in späteren Lebensjahren belegt, die ihm Gelegenheit gegeben haben können, sie kennen zu lernen. Daß er sich als Komponist jedoch nicht in die Reihe der Genannten stellte, deutet eher auf eine bescheidene Selbsteinschätzung hin als auf Lieblosigkeit gegenüber seinem Instrument.

Mit dem anderen Argument Siebecks, nämlich der unbestreitbaren Vernachlässigung von Instandhaltungspflichten an der Dannenberger Orgel, ist ein trauriges Kapitel im Leben des Johannes Schultz berührt, welches seinen letzten Lebensabschnitt verdüsterte: der Geldmangel. Es kann hier nicht das komplizierte Währungs- und Münzproblem jener Zeit erläutert werden, von der Schwierigkeit einer Umrechnung in heutige Verhältnisse ganz zu schweigen. Feststeht, dass Johannes Schultz in den ersten zwanzig Jahren seines Wirkens in Dannenberg mit einem Jahreseinkommen von rund ‚170 Mark' bei freier Wohnung, zuzüglich von Naturalleistungen wie einigen Scheffel Getreide und Eiern sowie mit Nebenverdienstmöglichkeiten durch ‚Brautmessen', Beerdigungen, Verfassen von Gelegenheitsdichtungen und gegebenenfalls Orgelunterricht zufrieden gewesen zu sein scheint. Feststeht aber auch, dass die Auszahlung seiner Bezüge kompliziert war, zumal sie aus verschiedenen Quellen stammten und quartalsweise unterschiedlich ausgezahlt wurden. Zudem brachte der große Krieg Münzverschlechterungen und Geldentwertungen mit sich. Wenn dann noch Zahlungen zum Termin oder gänzlich ausblieben, wurde es für den, dessen Lebenshaltung davon abhing, prekär. Insbesondere reichte es seit Mitte der zwanziger Jahre nicht mehr für die Druckkosten seiner Kompositionen, die Schultz zuvor noch selbst hatte aufbringen können. So versiegte offenkundig auch der entsprechende Schaffensimpuls, bis auf wenige seltene Werke - einen komponierten ‚Neujahrswunsch' gegen Ende des Krieges und eine, leider verschollene, auf deutschen Text komponierte ‚Osterhistorie'. Nach und nach sah der Organist und Komponist sich genötigt, mittels Eingaben und zahlreichen Beschwerdebriefen seine Ansprüche einzuklagen. Das trug ihm den Ruf eines streitsüchtigen ‚Querulanten' ein. Doch konnte selbst sein Landesherr, inzwischen der berühmte Herzog August von Wolfenbüttel, selbst gebürtiger Dannenberger, nicht umhin, die Berechtigung seiner Ansprüche anzuerkennen und auf Abhilfe zu dringen. Selbst dies offenbar ohne durchgreifenden Erfolg. So blieb ein verbitterter, vereinsamter und zuletzt auch noch erblindeter Musiker zurück, der sich nicht mehr in der Lage sah, seinen Instandhaltungsverpflichtungen nachzukommen. 70jährig ist er gestorben und am 16. Februar 1653 in Dannenberg bestattet worden. Blockflöten: ‚Intrada 33' aus ‚Lüstgarte'

III. Die abschließenden Hinweise auf die Musik des Komponisten Schultz setzen ein bei seinen ersten Werken, sozusagen beim Schaffensfrühling des Dannenberger Hoforganisten und Komponisten. Diese Metapher erscheint nicht ungeeignet angesichts seiner damals noch von ungebrochener Freude an bewegten, oftmals wechselnden oder synkopisierten Rhythmen gekennzeichneten, phantasiereichen Kompositionen. Alle Stimmen werden, der damals gültigen Kompositionsweise folgend, stets selbständig geführt, imitieren sich aber oftmals, stehen also immer in lebendigem und hörbaren Bezug zueinander und sind der lebhaften oder gemessenen Bewegung des jeweiligen Tanzes zugeordnet. Besonders geliebt zu haben scheint Schultz die dreiertaktigen ‚Galliarden', von denen schon die Rede war. Sie folgten als heiter aufmunternder ‚Nachtanz' - ähnlich der Komödie bei den Griechen nach der Tragödie - den gemesseneren Schreit-Tänzen der Pavanen und ‚Passamezzen' (im ‚anderthalb-Schritt'). Mit solchen Passamezzen ist Schultz, wie das Internet kundtut, noch heute bekannt. In den Galliarden aber erreicht er eine Beschwingtheit, ja, nicht selten eine Anmut, die noch heute berührt und mit etwas Phantasie Bilder eines heiteren Hoffestes in den Hörenden entstehen lässt.

Bei dieser Gelegenheit sei darauf hingewiesen, dass der in Basel lebende Sohn des seinerzeitigen Schulrektors und Wendlandforschers Paul-Friedrich Miest vor einigen Jahren eine sehr hörenswerte CD mit Tanz- und Liedsätzen sowie Intraden von Johannes Schultz und Zeitgenossen produziert hat. Diese mithilfe von Spezialisten für frühbarocke Spielweisen höchst farbenreich gestaltete Aufnahme vermittelt einen lebendigen, zuweilen mitreißenden Eindruck von höfischer Tanz- und ‚Unterhaltungsmusik' jener Zeit (‚Johannes Schultz, Musicalischer Lüstgarte. Dulzainas Concerto di viole'; Label: Cantando 9309, 1993. Diese CD enthält außer den Kompositionen aus Schultz' ‘Lüstgarte' auch einige Stücke von William Bade und Samuel Scheidt).. Sie sind alles andere als ‚Musik von gestern'.

1617 gab Schultz seine erste Sammlung von ‚40 Neuen Außerlesenen Schönen Lieblichen Paduanen, Intraden und Galliard mit 4 Stimmen' nebst ‚2chorigen Passamezzen zu 8 Stimmen' in Druck. Diese seien ‚auf allen Musicalischen Instrumenten artig und lieblich zu gebrauchen' und - das Selbstbewußtsein des jungen Komponisten erscheint bemerkenswert -,zuvor niemals an Tag kommen'. Er widmete diese Werksammlung - auch das ein Hinweis auf ihren Zweck als höfische Tanz- und Festmusik - den beiden Welfenbrüdern Julius Ernst und August, seinen Landesherren und Förderern. Schultz ist mit diesen Stücken, die nach Art der damaligen Zeit mithilfe ganz verschiedener Instrumente und Instrumentengruppen ausgeführt werden konnten, auf der Höhe seiner Zeit, was den Beitrag zur höfischen Musik betrifft.

Vier Jahre später lässt er den ersten Teil seines geistlichen Hauptwerks, des ‚Musikalischen Thesaurus' drucken. Er enthält 62 Motetten, komponiert auf die Texte zu den Sonntagen des Kirchenjahres vom 1. Advent bis zum Sonntag Palmarum für 3 -16 Stimmen, einige davon doppelchörig, was venezianischen Einfluß vermuten lässt. Gewidmet ist das Werk wiederum dem Welfenhaus, diesmal aber seinen geistlichen Vertretern, nämlich den Bischöfen von Minden, Ratzeburg und Bremen. Evelyn Hartmann, die Dannenberger Kirchenmusikerin, hat sich der Mühe unterzogen, aus den in der Wolfenbütteler Herzog-August-Bibliothek archivierten Stimmheften in spätmittelalterlicher Notation einige Stücke in moderne Notenschrift und Partitursatz umzusetzen.

Anhand der 5-stimmigen Motette ‚Salva nos, Domine' soll im Folgenden exemplarisch etwas von der Kompositionsweise des Dannenberger Meisters verdeutlicht werden. Sie beginnt mit einem Chorsopransolo auf den Gebetsruf: ‚Rette uns, Herr, wenn wir wachen'.
Chor: Thema des Chorsoprans und Choreinsatz
Der Einsatz in höchster Lage lässt sich als gesteigerter Ausdruck der Bitte hören. Zugleich ist er eine Einladung an den Chor - dieser steht für die hörende und singende Gemeinde -, einzustimmen. Dies geschieht, indem die anderen Stimmen der Reihe nach den Bittruf aufnehmen wie in einer Fuge. Dabei bedient sich der Komponist eines Kunstgriffs, indem er die Einsätze des gleichen Themas in immer kürzeren Abständen aufeinander folgen läßt. Dies steigert die Wirkung der Dringlichkeit der gesungenen Bitte, gibt ihrer klanglichen Umsetzung zugleich aber auch immer mehr Fülle. Wie in vielen Kompositionen des Johannes Schultz durchlaufen auch hier die Stimmen immer wieder Quint- oder Oktavräume - diesmal auf das Wort ‚vigilantes': ‚wir wachen'. Oft werden solche Durchläufe mit sich zunehmend verkürzenden Notenwerten gestaltet. Das gibt diesen Passagen Geschmeidigkeit und Eleganz. Den Kontrast dazu bildet hier der Anruf ‚custodi nos' - ‚wache über uns' . Auch diesmal eine imitatorische Durchführung, zum Teil in paarweise geführten Stimmen. Aber jetzt mit halben Notenwerten, die sich wie gemeißelt einprägen.
Chor: ‚custodi nos'
Völlig anders noch einmal die musikalische Darstellung des Wortes ‚dormientes': ‚ wir schlafen'. Hier kommt die Bewegung in allen Stimmen gleichermaßen zur Ruhe in einer bei Schultz eher seltenen homophonen Satzweise. Alle Stimmen singen tief liegende, sich kaum verändernde Akkorde:
Chor: ‚dormientes'
Umso deutlicher tritt dann der Kontrast in der anschließenden Aufwärtsbewegung hervor auf die Worte: ‚ut vigilemus cum Christo': ‚damit wir wachen mit Christus'. Schließlich endet die Motette auf die Worte ‚et requiescamus in pace': ‚damit wir ruhen mögen in Frieden'.
Chor: ‘et requiescamus in pace'
Der Gesang mündet in beruhigte halbe Notenwerte ein - den Worten nachgehend -, wird jedoch durch Synkopen, also Einsätze auf unbetontem Taktteil, sowie durch Ausweichen in ferner liegende Tonarten noch einmal gesteigert und in Spannung gehalten, bis der Schluß wieder in die Höhenlage des Anfangs zurückkehrt.

Zu Recht lässt sich sagen: ein mit einfachen Mitteln eindrücklich gestaltetes kleines Kunstwerk, das dem Komponisten hier gelungen ist und ihn im Vollbesitz seiner kompositorischen Mittel zeigt, die er ebenso schlüssig wie knapp einzusetzen weiß, ganz der Verdeutlichung der komponierten Worte hingegeben. Die Worte dieser Motette lauten im Zusammenhang:

‚Rette uns, Herr, wenn wir wachen;
wache über uns, wenn wir schlafen,
damit wir wachen mit Christus
und ruhen in Frieden'.
Chor: Motette ‚Salva nos, Domine'

Ein Jahr später kehrt Schultz noch einmal zu seinen Anfängen zurück und bringt wiederum 59 Stücke zum Druck. Diesmal finden sich darin außer Tanzsätzen auch ‚Motetten, Madrigale, Fugen, Fantasien und Canzonen' auf weltliche und geistliche, lateinische wie deutsche Texte. Diese bunte, lebendig farbig komponierte Sammlung nennt der Komponist: ‚Musicalischer Lüstgarte' . Mit ihr zeigt er, dass er den musikalischen Formenreichtum seiner Zeit kennt und souverän und oft mitreißend zu handhaben weiß, ohne den Stil des vorhergegangenen Jahrhunderts zu überschreiten: imitatorische Führung selbständiger Stimmen, stets dem Ziel, die Worte verständlich und sinnfällig einzuprägen, zugeordnet.

Den Affekten hinter den Worten und über sie hinaus musikalisch nachzuspüren, wie es dann die italienische Oper, anknüpfend an den ‚stilo concitato', unternimmt, war noch nicht seine Sache. Wohl aber, die Plastizität der gesprochenen bzw gesungenen Rede mit musikalischen Mitteln herauszuarbeiten, wie es die Zeit erforderte, nicht zuletzt auch die Reformation. Dem blieb der Dannenberger Meister treu.

Damit sind seine Hauptwerke benannt. Aus späteren Jahren sind lediglich einige wenige Gelegenheitskompositionen wie die oben erwähnten16 bekannt. Aber das lustvolle Erfinden von Tanzweisen und die kunstvolle Wort- und Ton-Gestaltung in geistlichen Werken waren versiegt. So mag umso mehr das Verständnis seines musikalischen Schaffens berühren, das der Komponist als ‚Widmung' ausgesprochen und den Stimmheften seines ersten gedruckten Werkes vorangestellt hat: welch ‚eine große und hohe Gottes Gabe die edle freie Kunst Musica, - die Gott dem menschlichen Geschlecht vor und neben andern Künsten ... zu seinem Lob und Preis und dann zu Ergötzlichkeit und Restituierung .. abgematteter Gemüter, dieselben zu erfrischen, mitgeteilt und gegeben' habe, dies müsse, so schreibt der Komponist, nicht weitläufig herausgestrichen werden, da Musik 'in sich selbst des Lobes voll' sei. Dies meint doch wohl: wer sich der Musik mit seinem ganzen Können und seiner Liebe zu ihr hingibt - und dies konnte Johannes Schultz für sich in Anspruch nehmen -, stellt sich in den Dienst an der ihr selbst innewohnenden Fähigkeit, ‚abgemattete Gemüter zu erfrischen' und ‚Gott zu loben'. So hat der Komponist es wohl gemeint, so hat er es gewollt und so hat er es vielfältig bewahrheitet.
Chor: noch einmal Psalm150.

Überarbeitete Fassung eines Vortrags, welcher im Auftrag des ‚Wendländischen Geschichts- und Altertumsvereins' am 20. September 2011 in der St.-Johannis-Kirche zu Dannenberg vorgetragen wurde, ergänzt durch musikalische Darbietungen eines Blockflötenensembles sowie der Dannenberger Kantorei. Abgedruckt in: Stephan Freiherr von Welck (Hg.), Regionalgeschichte Hannoversches Wendland, Bd 1, Lüchow 2012, S.171ff; dort auch Anmerkungen und Literaturnachweise).

 

 

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